Auckland, Februar 1920
Vivian stand mit vom Fahrtwind und vor Aufregung geröteten Wangen an der Reling des Dampfschiffes Prinzessin Beatrice und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Vergessen waren die Strapazen der langen Reise, die ihr dank eines Billettes der zweiten Klasse nicht ganz so beschwerlich vorgekommen war.
Ach, Mutter, dachte sie wehmütig, wenn du dieses hellgrüne Wasser und diese kleinen verzauberten Inseln nur sehen könntest ... Sie seufzte. Ihre Mutter war tot und hatte ihr allein diese Fahrkarte und eine Adresse in Auckland hinterlassen. Und dazu einen Brief, den sie erst auf dem Schiff hatte lesen sollen, doch bislang war sie nicht einmal dazu gekommen. Ständig hatten ihr mitreisende junge Herren den Hof gemacht und ältere Herren versucht, sie unter ihre Fittiche zu nehmen.
»Du siehst aus wie ein aus dem Nest gefallener Vogel, den man einfach beschützen will und liebhaben muss«, hatte ihre Mutter stets geseufzt. Vivian fand das gar nicht. Sie war stark. Daran änderte auch ihre Größe nichts. Sie war klein und zierlich, besaß glattes, langes schwarzes Haar, das sie züchtig eingerollt und aufgesteckt trug, einen dunklen Teint und große braune Augen. Ihr außergewöhnliches Aussehen hatte ihr in London oft scheele Blicke der Frauen eingebracht, während die Männer sie sehnsuchtsvoll angestarrt hatten. Das hatte sie nur noch stärker werden lassen. Sie hatte sich schließlich damit abgefunden, eine Außenseiterin zu sein. Eine Exotin, wie die Mädchen in der Schule sie, nicht immer unbedingt nett gemeint, genannt hatten.
Natürlich hatte sie ihre Mutter mehr als einmal mit der Frage bedrängt, warum sie eine so dunkle Haut, dunkle Augen und dunkles Haar besaß, während deren eigenes Gesicht von vornehmer Blässe gewesen war. Ihre Mutter Mary hatte ihr etwas von einem italienischen Vorfahren erzählt.
O Mutter, dachte Vivian und fühlte die Schamesröte auf ihren Wangen brennen, während sie sich daran erinnerte, wie wütend sie diese noch kurz vor deren Tod angegangen war. Am Abend, als Mary ihr das Billett für die Prinzessin Beatrice und diese Adresse in Auckland gegeben hatte. Sie erinnerte noch den genauen Wortlaut ihres heftigen Streites.
»Du fährst nach Neuseeland zu deinem Vater«, hatte ihr die Mutter mit ihrer sanften und von der langen Krankheit bereits geschwächten Stimme zu erklären versucht.
»Zu meinem Vater?«, hatte Vivian wutentbrannt geschrien. »Du meinst doch nicht etwa den Mann, der dich nach meiner Geburt sang- und klanglos verlassen hat und in seine Heimat geflüchtet ist. Ans andere Ende der Welt, damit du ihn ja nicht findest, oder?«
»Vivi, du bist ungerecht, er hat immer für uns gesorgt.«
Vivians Antwort war ein hässliches Lachen gewesen. »Gesorgt? Er hat dir Geld geschickt. Er hat dich bezahlt.«
Ihre Mutter war in Tränen ausgebrochen, aber selbst das hatte Vivians Zorn nicht bezähmen können.
»Ich habe dich das noch nie gefragt, aber bevor du mich zu diesem Kerl schickst: Hat er vielleicht eine dunkle Hautfarbe? Habe ich das etwa von ihm? Ist er der Italiener?« Letzteres hatte sie mit einem spöttischen Unterton gesagt.
»Nein, dein Vater ist kein Italiener, kein ... nein, er ist hellhäutig wie ich«, hatte Mary gequält entgegnet.
»Ach, dann hat er dich vielleicht verdächtigt, dass ich von einem anderen Mann bin, und hat er sich deshalb aus dem Staub gemacht? Bin ich etwa von einem ganz anderen Mann als ihm, und du wolltest das vertuschen?«, hatte Vivian unbarmherzig spekuliert.
»Bitte, Vivi, nichts von alledem. Er ist dein leiblicher Vater. Warte, bis du auf dem Schiff bist. Ich habe dir ein paar Zeilen geschrieben, damit du verstehst, was ...«
»Und warum sagst du mir nicht einfach die ganze Wahrheit? Hast du Sorge, ich würde dann nicht auf das verdammte Schiff gehen? Aber das werde ich auch ohne deinen Brief nicht tun. Ich bleibe bei dir!«
Mary hatte daraufhin nach ihrer Hand gegriffen und unter Tränen gefleht: »Es ist mein Letzter Wille. Er ist doch dein Vater. Versprich es mir!«
»Aber er will mich nicht. Glaubst du, ich fahre um die halbe Welt, damit er mich wieder zurückschickt?«
»Ich habe ihm geschrieben, dass und wann du ankommst.«
»Ach ja? Und er hat Freudensprünge aufgeführt?«
Mary schlug die Augen nieder. »Er freut sich auf dich.« Das klang schwach.
Vivian hatte kein Wort geglaubt, doch als ihre Mutter sich schließlich in Krämpfen gewunden und verzweifelt ihre Hand gedrückt hatte, war sie bereit gewesen, ihren Widerstand aufzugeben.
»Mutter, ich schwöre dir: Ich gehe auf dieses Schiff. Ich fahre nach Neuseeland«, hatte sie unter Tränen versprochen.
Daraufhin war Mary in einen tiefen Schlaf gefallen. In einen Schlaf, aus dem sie nicht mehr erwachen sollte. Aber das hatte Vivian erst am nächsten Morgen gemerkt, als sie ihre Mutter hatte waschen und ihr das Frühstück bringen wollen. Vivians durchdringender Schrei hatte sogar die Nachbarn herbeigeholt.
»Na, so allein, junge Frau? Gibt es jemanden, der Sie abholt, oder soll ich Sie in dem Wagen mitnehmen, der mich erwartet?«, hörte Vivian wie von ferne eine männliche Stimme fragen. Sie fuhr herum und blickte einem untersetzten älteren Herrn mit schlohweißem Haar geradewegs in das vor Aufregung gerötete Gesicht. Wie sie diese Blicke anekelten. Was dachte sich so ein alter Mann eigentlich dabei, sie zu einer Autofahrt einzuladen? Würde er das auch bei der hochgewachsenen blonden Schönheit wagen, die links von ihr stand und ebenfalls fasziniert die Einfahrt in den Hafen von Auckland beobachtete?, schoss es Vivian durch den Kopf.
Täuschte sie sich, oder legte er seine Hand nun absichtlich so dicht neben ihre, dass sie einander berühren mussten? Wütend zog sie die Hand weg und wechselte, ohne ein Wort zu sagen, ihren Platz.
Die Inseln kamen immer näher, und Vivian schlug das Herz bis zum Hals. Das war mehr, als sie sich erträumt hatte. Noch niemals zuvor hatte sie so grünes Wasser gesehen. Sie hatte ein Buch über ihre neue Heimat mit an Bord genommen und es förmlich verschlungen. In diesem Werk wurden wahre Hymnen auf die unglaublich schöne Natur Neuseelands gesungen. Gletscher, tropische Wälder, Wasserfälle, weite Strände ... Und die Natur war das Einzige, worauf sich Vivian von Herzen freute, weil sie sich vorstellte, dass dieses ganze Land mehr zu bieten hatte als der Regent's Park. Das war die Art von Natur gewesen, die sie bislang gekannt hatte, abgesehen von den wenigen Ausflügen an die Küste. Auf das Meer war sie besonders gespannt gewesen ... Und nun war es von diesem unbeschreiblichen Grün.
Trotzdem wäre sie viel lieber in London geblieben, aber sie war erst achtzehn und hatte keine Verwandten in der Stadt. Die Eltern ihrer Freundin Jane hätten sie zwar gern bei sich aufgenommen, aber Vivians schlechtes Gewissen wegen ihres allerletzten Streites mit der Mutter war so übermächtig, dass sie sich nicht traute, sich deren Letztem Willen zu widersetzen. Außerdem hatte sie es ihr geschworen. In gewisser Weise sah sie diese Reise auch als Strafe dafür an, dass sie nicht in Frieden mit ihrer Mutter auseinandergegangen war. Hatte Mary nicht stets nach einem Streit gebeten, sich schnell wieder zu versöhnen? »Es kann ja einem von uns etwas zustoßen, und dann verzeihen wir uns nicht, dass wir uns im Bösen getrennt haben«, hatte sie stets gemahnt. Vivian hatte das nie so ganz ernst genommen. Nun musste sie schmerzhaft erkennen, wie recht ihre Mutter damit gehabt hatte. Vivian kämpfte mit den Tränen bei dem Gedanken, dass sie keine Gelegenheit mehr für eine Entschuldigung haben würde. Und erneut fragte sie sich, was dieser Mann, zu dem ihre Mutter sie geschickt hatte, für ein Mensch sein mochte. Töchterliche Gefühle wollten sich bei ihr jedenfalls nicht einstellen. Dazu hatte sie ihre Mutter viel zu sehr geliebt. Obwohl Mary immer nur gut von Peter gesprochen und sogar behauptet hatte, er habe sie geliebt, hatte das auf Vivian nicht abgefärbt. Sie war nicht bereit, ihm zu verzeihen, dass ihre Mutter ein Leben lang gelitten hatte. Ja, sie ging so weit, auch die tückische Krankheit, die Marys Körper langsam zerfressen hatte, auf den feigen Abgang ihres Vaters zurückzuführen. Was gab es Gemeineres als einen Mann Gottes, der eine junge Frau schwängerte, ihr die Ehe versprach und sich am Tag der Geburt des Kindes auf Nimmerwiedersehen absetzte? Vivian wurde allein bei dem Gedanken daran flau, diesem Kerl gleich begegnen zu müssen, doch dann zog das Anlegemanöver ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich. An der Pier standen Hunderte von aufgeregt winkenden Menschen, als der Dampfer festmachte. Die Geräuschkulisse war gewaltig. Quietschendes Eisen, Stimmengewirr, das Tuten des Schiffshorns, eine Kapelle, die zu ihrer Ankunft spielte ...
»Ich bin gespannt, wer meiner ist«, sagte eine junge Rothaarige aus einem Pulk von Frauen direkt neben ihr kichernd und deutete nach unten. Vivian erblickte eine laut grölende Gruppe grobschlächtiger Kerle, die den Frauen Handküsse zuwarfen. Vielleicht stimmte es ja wirklich, was Jane ihr scherzhaft zum Trost mit auf den Weg gegeben hatte. »Ich beneide dich glühend, es soll in Neuseeland viel mehr heiratswillige Männer geben als hier. Also, wenn ich in London keinen finde, komme ich nach ...«
Unwillkürlich musste Vivian lächeln, doch das verging ihr schon in demselben Augenblick wieder. Du bist keine Frau zum Heiraten, hatte ihr einmal ein junger Mann, mit dem sie öfter ausgegangen war, an den Kopf geworfen, nachdem sie sich geweigert hatte, allein mit ihm in seine Wohnung zu gehen. Einmal abgesehen von der Erfahrung mit diesem unverschämten Kerl war sie ohnehin nicht sonderlich daran interessiert, eine Ehefrau zu werden. Sie träumte davon, für eine Zeitung zu schreiben. Ihre größte Angst war allerdings, so wie ihre Mutter allein mit einem Kind sitzen gelassen zu werden. Deshalb empfand sie kein großes Bedürfnis, überhaupt mit Männern auszugehen. Und das hatte sie ihre Verehrer an Bord auch zur Genüge spüren lassen.
Nachdem das Schiff festgemacht hatte, begann ein furchtbares Geschiebe und Gedränge. Weder die Auswanderer noch die Reisenden konnten es erwarten, endlich neuseeländischen Boden zu betreten.
Vivian aber ließ sich bewusst Zeit. Sie trödelte absichtlich, als könne sie die Begegnung mit ihrem Vater auf diese Weise doch noch vermeiden. Als eine der Letzten ging sie die Gangway hinunter. Die Menschenmengen am Pier hatten sich merklich gelichtet. Vivian seufzte. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als nach ihrem Vater Ausschau zu halten. Sie erschrak. Wie sollte sie ihn erkennen? Ihre Mutter hatte ja nicht einmal ein Bild von ihm besessen. Und die Beschreibung, dass er groß, blond gelockt und stattlich war, traf auf mehr als die Hälfte der wartenden Männer zu.
Als sie schließlich mit ihrem Gepäck, drei unterschiedlich großen Koffern, an der Pier stand, wollte sie plötzlich jeglicher Mut verlassen. Ihr war zum Heulen zumute. Dagegen half auch kein Blick zurück auf die märchenhafte Bucht, in der das Schiff sie ausgeladen hatte. Sie fühlte sich so verloren und verfluchte ihre Entscheidung, dem Willen ihrer Mutter Folge geleistet zu haben. Wenn ich doch nur bei Jane sein könnte, dachte sie, als sie einen hochgewachsenen blonden Mann auf sich zusteuern sah. Sie stutzte. Das konnte unmöglich ihr Vater sein. Dieser Mann war jung, allerhöchstens Mitte zwanzig.
»Entschuldigen Sie, Sie sind nicht zufällig Vivian Taylor?« Er blickte sie prüfend an und fügte, bevor sie antworten konnte, hastig hinzu: »Nein, sorry, das sind Sie sicher nicht.«
Vivian hielt seinem Blick stand. »Warum sind Sie sich da so sicher?« Sie versuchte freundlich zu klingen, obgleich sie sich maßlos über sein ungläubiges Staunen ärgerte. »Sie zweifeln daran wegen meiner dunklen Haut, nicht wahr?«, fügte sie spitz hinzu.
Der junge Mann war sichtlich verlegen. »Sie haben recht. Man hat Sie mir nicht beschreiben können. Ihr Vater hat Sie wohl zuletzt als Säugling gesehen, wenn ich recht informiert bin. Und er ist nun einmal jemand, der beim ersten Sonnenstrahl einen Hut aufsetzen muss. Sonst bekommt er einen Sonnenbrand. Er ist ausgesprochen blass, würde ich sagen. Das sollten Sie übrigens auch tun, auch wenn Sie einen wesentlich dunkleren Teint als Ihr Vater haben.«
»Was sollte ich tun?«, fragte Vivian angriffslustig. Hatte dieser Kerl nichts Besseres zu tun, als ihr unter die Nase zu reiben, dass sie ihrem Vater so gar nicht ähnlich sah?
»Einen Hut aufsetzen! Die Sonne ist sehr kräftig in diesen Breiten.« Er lächelte sie gewinnend an und reichte ihr die Hand. »Ich bin Frederik, Sie können mich auch Fred nennen. Ihr Vater hat mich geschickt. Er war verhindert. Eine Hochzeit. Das Paar wollte unbedingt vom Bischof höchstpersönlich getraut werden.« Er lächelte immer noch, während er ihr herzlich die Hand schüttelte.
Spitzbübisch, wie Vivian fand, und sie konnte sich nicht helfen, der junge Mann war ihr trotz allem Vorbehalt gegen die neue Heimat sympathisch.
Aber wer in aller Welt war dieser Fred? Auch ein Geistlicher? Und hatte sie ihn gerade richtig verstanden, dass ihr Erzeuger der Bischof von Auckland war? Sie konnte sich gerade noch verkneifen, ihn mit neugierigen Fragen zu überfallen. Er musste ja nicht unbedingt wissen, dass er ihr Interesse erweckt hatte.
Frederik nahm einen ihrer Koffer und hievte ihn auf die Ladefläche eines roten Wagens, einer Art kleinen Lastwagens.
»Nehmen Sie doch schon mal auf dem Beifahrersitz Platz«, schlug er vor und blickte sie aus seinen graugrünen Augen prüfend an. »Oh, verzeihen Sie. Rede ich zu viel? Sie sind ja völlig verstummt. Sie nehmen mir doch hoffentlich nicht übel, dass ich meinte, Sie könnten nicht Vivian sein.« Er lächelte entschuldigend.
Vivian erwiderte sein Lächeln. »Nein, so schnell verschlägt es mir nicht die Sprache. Was meinen Sie, was ich mir in meinem Leben schon alles anhören musste. Na, zu lange in der Sonne gebraten? War dein Vater Indianer? Wissen Sie, dass mich Ihre Exotik schier verrückt macht? Wenn ich jedes Mal beleidigt wäre, ich hätte viel zu tun. Und was meinen Sie, was ich früher alles angestellt habe, um blasser zu werden. Ich bin nicht in die Sonne gegangen, habe mich mit Talg eingeschmiert, mich abgeschrubbt, bis mir die Haut in Fetzen hing...«
»... um Himmels willen, nicht doch! Sie sind wunderschön -so, wie Sie sind.«
»Würden Sie das auch einer blassen weißen Frau, die Sie gerade einmal fünf Minuten kennen, so unverblümt sagen? Oder trauen Sie sich das nur bei einer Exotin wie mir?«, konterte Vivian und konnte ihm dennoch nicht wirklich böse sein.
Fred lächelte sie verschmitzt an. »Nein ... doch ... nein ... also, das würde ich sicher auch bei einer blassen Dame tun, aber ich habe selten eine Frau getroffen, die mich auf den ersten Blick so beeindruckt wie Sie. Und das liegt weniger an Ihrem wunderschönen Teint als vielmehr an Ihrer erfrischend offenen Art.«
Das verschlug Vivian die Sprache. Hoffentlich sieht er nicht, dass ich rot geworden bin, schoss es ihr durch den Kopf, während sie hastig auf den Beifahrersitz kletterte.
»Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten«, bemerkte er entschuldigend, als er die Tür hinter ihr schloss. Dann holte er ihr restliches Gepäck und fuhr mit ihr durch Auckland. Vivian kam aus dem Staunen nicht heraus. Es sah hier merkwürdig ländlich aus. In der Hauptstraße gab es zwar einige höhere Gebäude und sogar solche aus Stein, aber der Rest waren zweistöckige Holzhäuschen, die alle ein Vordach besaßen.
»Auckland muss Ihnen doch, gemessen an London, wie ein Dorf Vorkommen«, bemerkte Fred.
Konnte er Gedanken lesen? Ohne sich ihm zuzuwenden, nickte sie eifrig. Sie bogen in eine Straße ein, in der nur noch kleine Einzelhäuser aus Holz standen, bis sie in einen Teil der Stadt kamen, der zwar auch von Holzhäusern gesäumt war, die aber ungleich prächtiger wirkten. Es schien ihr, als hätten sich die Bewohner dieses Viertels gegenseitig mit viktorianischen Verzierungen übertrumpfen wollen.
»Das ist Parnell«, erklärte ihr Fred. »Hier haben immer schon die reicheren Leute gewohnt. Und sehen Sie dort. Das ist Selwyn Court. Dort hat der erste Aucklander Bischof gelebt. Wir wohnen leider nicht ganz so hochherrschaftlich.«
Wir? Vivians Neugier wuchs. Wohnte er mit ihrem Vater unter einem Dach? Und schon rutschte es ihr heraus: »Sind Sie auch Geistlicher?«
Seine Antwort war ein kehliges Lachen. »Gott bewahre!«, rief er aus. »Ich bin Sklave beim New Zealand Herald.«
Vivian wandte sich interessiert zu ihm um. »Sie sind Reporter?«
Er nickte eifrig.
»Das wäre ich auch geworden, wenn man mich in London gelassen und nicht gezwungen hätte, in diesem letzten Ende der Welt zu versauern«, stieß sie wütend hervor. Erst an Freds betroffenem Blick erkannte sie, dass sie ihn mit ihren groben Worten beleidigt haben musste. Das war nicht ihre Absicht gewesen.
»Entschuldigen Sie, das ist mir nur so herausgerutscht. Ich wollte das nicht so sagen, ich ...«, stammelte sie.
»Ich entnehme Ihren Worten, dass Sie nicht freiwillig, geschweige denn gern nach Auckland zu Ihrem Vater gereist sind.«
»Pah, Vater. Wenn ich das schon höre. Ich kenne den Mann doch gar nicht. Er hat meine Mutter mitsamt ihrem Neugeborenen, also mir, sitzen gelassen. Das ist alles, was ich von ihm weiß. Und das ist kein guter Grund, ihn aufzusuchen. Es war der Letzte Wille meiner Mutter, hierherzukommen. Und der ist mir heilig.« Letzteres sagte sie leise und traurig.
»Es tut mir leid. Ich bin ungeschickt. Ich wusste doch nicht, wie Sie zu ihm stehen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich überhaupt erst vor einigen Wochen von Ihrer Existenz erfahren und ...« Er unterbrach sich. »Wir sind da.« Er machte aber keine Anstalten auszusteigen, sondern musterte sie durchdringend. »Vivian, lassen Sie sich nicht von seiner manchmal recht groben Art abschrecken. Er ist im Grunde seines Herzens ein guter Mensch.«
»Danke für den Ratschlag, aber das passt in das Bild, das ich von ihm habe. Ich hege keine Illusion, was den Charakter dieses Menschen angeht, und werde ohnehin nur so lange hierbleiben, bis ich volljährig bin. Dann wird das erste Schiff zurück nach England meines sein.«
Fred sah sie beinahe mitleidig an. »Ich wollte nur vermeiden, dass Sie enttäuscht sind, wenn Sie ihn kennenlernen.«
Vivian aber hörte ihm gar nicht mehr zu. Sie sprang gehetzt aus dem Wagen, denn nun wollte sie es nur noch hinter sich bringen. Arm ist er nicht, dachte sie, als sie staunend das hochherrschaftliche Haus betrachtete. Mit Bitterkeit dachte sie an die Verhältnisse zurück, in denen sie mit ihrer Mutter hatte leben müssen. Ein bescheidenes Zimmerchen für sie beide, mehr war ihnen nicht vergönnt gewesen, während dieser Mann ... Ach, sie wollte sich das Herz nicht unnötig beschweren. Und nun war es zu spät zur Umkehr. Sie hatte sich schon so vieles in ihrem Leben erkämpft. Ihren hervorragenden Schulabschluss trotz des Widerstandes der Lehrer, die partout nicht an sie glauben wollten, oder den Gleichmut gegenüber den Sticheleien ihrer Mitschülerinnen. Sie würde die Zähne zusammenbeißen und diese drei Jahre klaglos überstehen.
Eine wohlige sommerliche Wärme, die sie jetzt erst richtig wahrnahm und die sie wie eine Wolke einhüllte, bekräftigte sie in ihrem Entschluss. Wie hatte ihre Mutter immer gesagt? Ach ja, alles im Leben habe sein Gutes. Ja, und die Luft hier am anderen Ende der Welt war ungleich lieblicher. Vivian atmete noch ein paarmal tief ein, bevor sie mit pochendem Herzen auf die Haustür zuging.